Konchylien, die Schalen von Schnecken und Muscheln, waren ein gefragtes Objekt für Naturaliensammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Hier waren sie sowohl Objekte naturkundlicher Forschung als auch Gegenstände, die wegen ihrer Schönheit geschätzt wurden: Sie wurden von Naturforschern beschrieben, in allen Details gezeichnet, verschiedentlich angeordnet und interessierten Besuchern präsentiert. Die enge Verbindung von Naturkunde, Kunst, Handel und der sozialen Funktion von Sammlungen, die in der Frühen Neuzeit bestand, tritt bei den Konchylien besonders deutlich hervor. Aber wie hingen Beschreibung, Benennung, Ordnung, Präsentation und Wertschätzung einzelner Objekte genau miteinander zusammen? Wie änderte sich ihr Verhältnis angesichts der neueren Ideen zur Funktion von Naturkundemuseen am Anfang des 19. Jahrhunderts? Inwiefern lassen sich Besonderheiten im Umgang mit versteinerten Konchylien erkennen?
Im Rahmend es Projektes „Objektsprache und Ästhetik“ wurden drei historische Sammlungen erfasst, zur Analyse miteinander verknüpft und auf dieser Website verfügbar gemacht:
Die Naturaliensammlung der Leopoldina, der ältesten ununterbrochen bestehenden Wissenschaftsakademie der Welt, wurde 1732 gegründet und ist ein frühes Beispiel für einen Versuch eine Sammlung als überpersonelle Einrichtung zu etablieren. Die 625 Konchylien dieser Sammlung wurden 1759-1762 in einem illustrierten Manuskript durch den Akademiebibliothekar und Naturforscher Johann Hieronymus Kniphof erfasst, als dessen Mitarbeiter der Maler Friedrich Wilhelm Ernst Wunder identifiziert werden konnte. (1822 wurde die Sammlung nach mehrfachen Ortswechseln an die Universität Bonn verkauft.)
Die Sammlung der Universität Halle entstand 1787 als Institutionalisierung der schon vorher in der Lehre verwendeten privaten Sammlung des Professors für Naturkunde Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen. Sie setzte sich zu großen Teilen aus älteren Privatsammlungen zusammen, die zuvor Gottfried August Gründler und dem Leopoldina-Präsidenten Andreas Elias Büchner gehört hatten. Ihr Bestand umfasste 507 Arten und wurde in zwei Katalogen durch den Naturforscher Friedrich Albrecht Carl Gren aufbereitet.
Das Naturhistorische Museum der Universität Bonn entstand 1821 im Kontext der Gründung der Universität und umfasste ab 1822 auch die angekaufte Leopoldina-Sammlung. Auf Grundlage des stetig vergrößerten Bestandes an fossilen Konchylien erstellte der Professor für Naturkunde und Sekretär der Leopoldina Gottfried August Goldfuß 1429 Einträge in seinen Petrefacta Germaniae (1826-1844).
Diese drei Bestände wurden mit ihren historischen Benennungen, Literaturverweisen, historischen Abbildungen sowie Bildern von heute noch erhaltenen Objekten erfasst und zueinander in Bezug gesetzt. Hierzu wurde das CIDOC Conceptual Reference Model zugrunde gelegt. Zudem werden Verweise auf die moderne zoologische Taxonomie und zu weiterführenden Informationen bereitgestellt. Das Kniphof-Wunder-Manuskript ist zudem in einer digitalen Edition nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative verfügbar, innerhalb derer die sprachlichen Transformationen, welche Teil der systematischen Erfassung der Sammlung waren, im Detail nachvollzogen werden können.
Inhaltswarnung: Konchylien stammten zu einem beträchtlichen Teil aus kolonialisierten Gebieten. Ihre daraus resultierende Seltenheit in Europa machte ihren hohen Wert für Sammler mit aus. Die menschenverachtenden Bedingungen der Kolonisation werden zumeist von der Schönheit, welche den Objekten zugeschrieben wird, sowie von der vermeintlichen Objektivität der Naturkunde überdeckt. In einigen Fällen aus der Leopoldina-Sammlung (Nr. 154, 173, 182, 376, 413, 509, 517) ist rassistische Sprache erkennbarer Teil der verwendeten Benennungen und weist unter anderem darauf hin, dass europäische Gelehrte koloniale Aktivitäten zu weiten Teilen akzeptierten, in sie verstrickt waren und von ihnen profitierten.
Das Projekt „Objektsprache und Ästhetik: Wertdimensionen des Objektbezugs in historischer Perspektive. Das Beispiel Konchylien“ wurde 2018-2022 vom Leopoldina-Zentrum für Wissenschaftsforschung in Zusammenarbeit mit dem Zentralmagazin Naturwissenschaftlicher Sammlungen der Martini-Luther-Universität Halle-Wittenberg und dem Goldfuß-Museum der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn durchgeführt. Finanziert wurde des mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung im Förderschwerpunkt „Sprache der Objekte“ über die Trägerschaft des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt